Ist Abnehmen für stark Übergewichtige bald viel leichter dank der Abnehmspritzen? Oder ist die Lösung doch nicht so einfach? Wir haben unterschiedliche Experten gebeten, ihre Perspektive auf das Thema zu teilen.
Die Beiträge wurden vom Kompetenzzentrum für Ernährung (KErn) eingeholt.
Inhalt
Um erfolgreich abzunehmen, braucht es auch eine Ernährungsumstellung

Prof. Dr. med. Matthias Blüher
Direktor des Helmholtz-Instituts für Metabolismus-, Adipositas- und Gefäßforschung (HI-MAG):
Professor für Klinische Adipositasforschung an der Universität Leipzig
Um erfolgreich Gewicht zu reduzieren, wird die neue Abnehmspritze allein nicht ausreichen. Denn eine Adipositastherapie besteht immer aus mehreren Bausteinen und umfasst neben der Ernährungsumstellung auch eine Steigerung der körperlichen Aktivität. So kommt der Stoffwechsel auf Trab, der Blutzuckerspiegel sinkt, und auch der Appetit wird weniger.
Um langfristig dabei zu bleiben, braucht es ein gewisses Maß an Disziplin und Durchhaltevermögen. Schließlich verteidigt der Körper sein Ausgangsgewicht über unterschiedliche Mechanismen. Dazu zählen beispielsweise die Ausschöpfung der aufgenommenen Kalorien aus der Nahrung sowie die Regulation von Grundumsatz und Sättigung. Das bedeutet: Wir spüren erst deutlich später ein Sättigungsgefühl oder werden von Heißhunger geplagt. In Studien zu Semaglutid erhielten die Teilnehmer übrigens zum Medikament auch eine kalorienreduzierte Diät mit erhöhter körperlicher Aktivität oder eine intensive Verhaltenstherapie inklusive sehr strenger Diät, vermehrter körperlicher Aktivität und verhaltensbezogener Beratung. Ideal wäre also, wenn die Patienten während der medikamentösen Behandlungsphase lernten, ihre Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten umzustellen.
Wird die Adipositas-Chirurgie durch die Abnehmspritzen überflüssig?

Prof. Dr. Goran Marjanovic
Oberarzt, Leiter Metabolische Chirurgie am Universitätsklinikum Freiburg
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Adipositas ist eine chronische Krankheit, die wir seit 50 Jahren mithilfe chirurgischer Mittel wie einem Magenbypass behandeln. Die bariatrischen Operationen sind auch langfristig wirksam und werden in Deutschland vor allem bei Patienten mit vergleichsweise hohen BMI-Werten von durchschnittlich 48kg/m2 eingesetzt. Die Nachteile sind dafür zum Teil irreversible Veränderungen und Einschränkungen des Verdauungstrakts. Heilen können wir die Krankheit dadurch in den seltensten Fällen.
Aber Adipositas heilen werden auch die Abnehmspritzen nicht: Sie werden eher bei niedrigen BMI-Werten eingesetzt (ca. 30–38 kg/m2). Die Langzeiteffekte einer Dauer-Medikation sind noch nicht ausreichend erforscht; nicht alle Patienten sprechen gut auf die Therapie an, und sehr oft kommen die Kilos wieder, wenn die Medikamente abgesetzt werden. Dazu kommen noch die sehr hohen Kosten bei unklarer Finanzierung.
Was die neuen Medikamente aber tun ist: Uns viele Möglichkeiten geben, die chronische Krankheit Adipositas noch besser zu behandeln, individuelle Therapieoptionen anzubieten und vor allem langfristig noch bessere Effekte zu erzielen: Indem wir z. B. erst die Abnehmspritze für einen bestimmten Zeitraum setzen und anschließend operieren. Oder auch umgekehrt vorgehen. Wir sollten die verschiedenen Verfahren kombinieren, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen, wie es auch bei Tumorerkrankungen Standard ist. Es geht nicht um Ausschließlichkeit, sondern um ein Gemeinsames!
Semaglutid kann einen gesunden Lebensstil nicht ersetzen

Prof. Dr. Jakob Linseisen
Lehrstuhl für Epidemiologie der Universität Augsburg
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Semaglutid ist das erste „Lifestyle-Medikament“, das (neben der Indikation zur Diabetes-Behandlung) zum Abbau von übermäßigem Körperfett eingesetzt werden kann. Dafür muss es dauerhaft verwendet werden, sodass über die Zeit hohe Kosten entstehen und unerwünschte Langzeitwirkungen nicht ausgeschlossen werden können.
Der präventive Effekt einer gesundheitsförderlichen Ernährung, regelmäßiger körperlicher Aktivität und weiterer Komponenten eines gesunden Lebensstils zur Vorbeugung von physischen und psychischen Erkrankungen kann keinesfalls durch ein Medikament wie die „Abnehmspritze“ ersetzt werden. Auch wenn eine Umstellung des Lebensstils mühsamer ist als der Einsatz eines Medikaments, so ist dies sicherlich auch weiterhin die Methode der Wahl für eine umfassende Prävention. Adipositas ist zweifellos ein wichtiger Risikofaktor für eine Reihe von chronischen Krankheiten. Semaglutid kann diesen Risikofaktor – aber eben nur diesen – effektiv reduzieren. Bei adipösen Personen (BMI 30+) stellt es somit eine neue Möglichkeit dar, die Körperfettmasse deutlich zu verringern. Bei übergewichtigen Personen mit einem BMI zwischen 25 und 30 kg/m² ist der (dauerhafte) Einsatz eines Medikaments zur Körperfettreduktion kritisch zu sehen. Es würde bedeuten, dass zusätzlich etwa 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung mit Übergewicht als Zielgruppe für das Medikament vorgeschlagen werden. Um kleinere Körperfettmengen abzubauen, sollten nicht-medikamentöse Maßnahmen zum Ziel führen.
Was sagt die Deutsche Adipositas-Gesellschaft e. V.?
Die Abnehmspritze als Gamechanger in der Behandlung von Übergewicht
„Semaglutid 2,4 mg ermöglicht den Betroffenen, Studiendaten zufolge, eine Gewichtsreduktion von circa 15 bis 17 Prozent, bei relativ guter Verträglichkeit und in Kombination mit einer Lebensstilintervention. Das sind Größenordnungen, die mit früheren Wirkstoffen nicht denkbar waren. Bei Menschen mit Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen konnte in der SELECT-Studie zudem eine signifikante (20 %) Verringerung kardiovaskulärer Ereignisse gezeigt werden. Ein Novum für die Adipositasbehandlung“. Die SELECT-Studie schloss übergewichtige Patienten aus 41 Ländern ein.
Link zum ganzen Statement: https://adipositas-gesellschaft.de/statement-zur-berichterstattung-bei-tagesschau-de/
Link zur SELECT-Studie: https://www.acc.org/Latest-in-Cardiology/Articles/2023/08/10/14/29/SELECT-Semaglutide-Reduces-Risk-of-MACE-in-Adults-With-Overweight-or-Obesity
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Titelbild: Edugrafo/stock.adobe.com
Stand: März 2025